Appell an die Menschlichkeit

Eine Einordnung zu den aktuellen Geschehnissen in Israel und Palästina.

Der Gazastreifen ist das größte Freiluftgefängnis der Welt. Dies sagt unter anderem Francesca Albanese, die Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für die Palästinenser-Gebiete. Dieser Zustand besteht nicht erst seit Israels militärischer Reaktion auf das gewaltsame Eindringen von Hamas-Kämpfern auf israelisches Gebiet, bei dem Hunderte unschuldige Israelis ums Leben kamen. Bereits vor drei Jahren bezeichnete der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, die Bedingungen für Kinder im Gazastreifen aufgrund der seit 2007 andauernden israelischen Blockade als „Hölle auf Erden.“

Seit mehr als 60 Jahren wird der Lebensraum von Palästinensern und Palästinenserinnen immer weiter eingeschränkt und gleichzeitig allumfassend überwacht, verschlechtern sich ihre Lebensbedingungen kontinuierlich, werden Hunderttausende von Palästinensern ohne Prozess festgehalten, wird ihnen der Zugang zu lebensnotwendigen Ressourcen entzogen, wird ihnen Freizügigkeit und Freiheit verwehrt und die Perspektive auf ein besseres, selbstbestimmtes und friedliches Leben geraubt.

Palästinensicher Verlust von Land über die Jahrzehnte. Quelle: Wikimedia Commons

Von 2008 bis September 2023 wurden 6407 Palästinenser getötet, mehr als die Hälfte durch israelische Raketenangriffe. Im selben Zeitraum verzeichneten die Vereinten Nationen den Tod von 308 Israelis in Konfliktsituationen (Quelle: The Wire). Die zunehmende Gewalt extremistischer israelischer Siedler und ihre illegale Aneignung palästinensischen Landes haben nach einer Untersuchung des Norwegian Refugee Councils alleine in den letzten 20 Monaten fast 500 Palästinenser aus sieben Gemeinden vertrieben.

Mehr als drei von fünf Menschen im Gazastreifen sind von Ernährungsunsicherheit betroffen, d. h. sie haben keinen ständigen Zugang zu ausreichender Nahrung für ein gesundes Leben. Die Region leidet unter einer Arbeitslosenquote von rund 46 % und einer Jugendarbeitslosigkeit von fast 60 %. Im Gegensatz dazu liegt die Arbeitslosenquote in Israel unter 4 %. Allein zwischen 2007 und 2018 verursachte die Blockade wirtschaftliche Verluste in Höhe von 16,7 Milliarden US-Dollar und vervierfachte die Armutsrate unter der palästinensischen Bevölkerung (Quelle: ABC News).

Empathie und Mitgefühl für die palästinensische Zivilbevölkerung, ihre Geschichte, ihr Schicksal und ihre Lebensumstände zu haben, bedeutet nicht, den verheerenden Angriff der Hamas-Miliz auf die israelische Bevölkerung zu relativieren oder gar zu rechtfertigen. Gewalt, egal auf welcher Seite, kann nie zu einer Lösung führen oder selbst Lösung sein. Die Brutalität und Gewalt der Hamas-Attacken auf die Bürger Israels, darunter viele Frauen und Kinder, schockieren uns alle.  Das Zerreißen von Menschenleben und der Verlust geliebter Menschen sowie die psychischen Folgen für diejenigen, die miterleben mussten, wie Familienmitglieder und Freunde entführt oder brutal ermordet wurden, sind entsetzlich.

Empathie und Mitgefühl für die Menschen in Palästina zu haben bedeutet, das Leid der Menschen auf beiden Seiten zu beklagen und zu betrauern, die kolonialen Ursachen der Vertreibung von Millionen Palästinensern von ihrem Land zu verstehen, einseitige Schuldzuweisungen zu vermeiden, sich von jeglicher Gewalt abzuwenden und sich für die Menschen einzusetzen, die keine Stimme haben und kein Gehör finden. Es bedeutet, Menschlichkeit zu zeigen.

In all der Brutalität der letzten Tage geht diese Menschlichkeit erschreckend schnell verloren. Der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant verfügte mittlerweile eine vollständige Belagerung des Gazastreifens. Der Strom wurde abgestellt, die Einfuhr von Lebensmitteln, Treibstoff und allen anderen lebenswichtigen Gütern ist blockiert. Die Begründung hierfür: Israel befinde sich im Krieg mit „menschlichen Tieren.“ Damit benutzt Gallant genau die Art von entmenschlichender Sprache, die von beiden Seiten in Zeiten zunehmender Spannungen häufig verwendet wird, und entsetzliche Verbrechen auf beiden Seiten rechtfertigen soll.

Das humanitäre Völkerrecht verbietet die kollektive Bestrafung von anderen Personen für Handlungen, die von Einzelpersonen während eines bewaffneten Konflikts begangen wurden. Am Überfall der Hamas auf Israel waren mehr als 1000 Angreifer beteiligt. Gazas Bevölkerung umfasst mehr als 2,3 Millionen Menschen. Gaza ist nicht Hamas. Doch was dort gerade geschieht, ist nichts anderes als ein weiteres Kriegsverbrechen in diesem jahrzehntelangen Konflikt: die kollektive Bestrafung der palästinensischen Bevölkerung im Gaza-Streifen.

Dass sich die Hamas-Extremisten ebenfalls nicht an internationales Recht halten, kann und darf keine Rechtfertigung für einen demokratischen Staat wie Israel sein, internationales Recht mit den Füßen zu treten. Dass ein noch härteres Vorgehen, noch mehr Gewalt und Unterdrückung zu einer langfristigen Lösung des Nahost-Konflikts führen wird und irgendetwas außer menschliches Leid und weitere schreckliche Gewaltspiralen verursachen wird, kann niemand nach all den Jahrzehnten des Konflikts glauben, nicht einmal der israelische Premierminister und seine teils rechtsextremen Kabinettsmitglieder. Nur eine Zwei-Staaten Lösung wird zu Frieden in der Region führen.

Die israelische Blockade des besetzten Gazastreifens besteht in ihrer jetzigen Form seit mehr als 16 Jahren. Doch noch nie hat sie ein solch brutales Ausmaß erreicht, das sich ohne Intervention bereits in den nächsten Tagen zu einer beispiellosen humanitären Katastrophe entwickeln wird. Kein Strom, kein Essen, kein Treibstoff. Am 11. Oktober 2023 musste das einzige Kraftwerk zur Stromerzeugung in Gaza auf Grund der verschärften Blockade seinen Betrieb einstellen. Alle grundlegenden Lebensdienste sind dadurch gefährdet.

Die humitäre Situation in Gaza am 11.10.2023.

Lebensrettende Maschinen in Krankenhäusern, die mit Generatoren betrieben werden, stehen vor einem kritischen Ausfall. Laut Hassan Khalaf, dem medizinischen Leiter des Al-Wafa-Krankenhauses in Gaza-Stadt, sind derzeit 100 Neugeborene in der Region dringend auf von Strom betriebene medizinische Geräte angewiesen, um zu überleben. Auf den Intensivstationen der Krankenhäuser im Gaza-Streifen liegen Tausende von Verletzten, darunter viele Frauen und Kinder, die von elektrisch betriebenen Sauerstoffgeneratoren abhängig sind.

Die Knappheit an Nahrungsmitteln wird innerhalb weniger Tage zu einer verheerenden Hungersnot führen, und der Zugang zu Trinkwasser wird nicht mehr gewährleistet sein. Der bereits bestehende Mangel an medizinischer Ausrüstung und Medikamenten wird sich weiter verschärfen und zu einer ungeahnten humanitären Gesundheitskrise führen (Quelle: CBC).

Nichts und niemand kann das absichtliche, bewusste Verursachen solch menschlichen Leids und einer Katastrophe solchen Ausmaßes rechtfertigen. Wenn es trotz allem dazu kommt, unterstützt oder mindestens ignoriert von den westlichen Verbündeten Israels, haben wir alle unsere Menschlichkeit verloren. Lassen wir es nicht so weit kommen.

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