Pionierinnen aus Indien

Zum Weltfrauentag möchten wir euch fünf Frauen aus Bangalore in Südindien vorstellen, die heute ein selbstbestimmtes Leben führen und Vorbild und Inspiration für andere sind.

Helen, Flora, Selvi, Sarojini und Shakuntala hätten nie gedacht, durch Autofahren einmal ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Dank des kostenlosen Fahrtrainings unseres Projektpartners Shishu Mandir hatten sie zwar ihren Führerschein erworben, aber bisher nur als Hausangestellte und in Textilfabriken gearbeitet. Im letzten Jahr bekamen sie schließlich die Chance, ihre eigenen Chefinnen zu werden: Sie sind die ersten fünf Frauen, die Fahrgäste aus allen Ecken der Millonenmetropole Bangalore in einem Elektroauto an ihre Zielorte bringen. Diese Initiative wird von der knodel foundation seit 2022 unterstützt.

Flora ist Anfang 50. Seit mittlerweile fast einem Jahr ist sie als Taxifahrerin mit ihrem elektrischen Auto unterwegs. Davor war sie als Haushaltshilfe tätig. „Ich habe jeden Tag von 06.30 Uhr morgens bis 21 Uhr abends in verschiedenen Häusern gearbeitet. Doch obwohl ich so hart arbeitete, konnte ich es mir nie leisten, krank zu werden. Wenn ich krank war, bekam ich vielleicht ein oder zwei Tage frei. Wenn ich mehr Urlaub bräuchte, würden mich meine Arbeitgeber einfach ersetzen, weil es ihnen lästig war. Ich hatte nie eine Garantie für Arbeit und ich hatte nie genug Geld,“ erzählt sie uns.

Anand C., Direktor von Shishu Mandir, sagt: „Nach Covid haben wir nach neuen Verdienstmöglichkeiten für unsere ausgebildeten und lizenzierten Fahrerinnen gesucht. Letztes Jahr trat der lokale Rotary Club mit einer Idee an Shishu Mandir heran. Sie besaßen fünf Elektroautos und wollten mit einer Organisation zusammenarbeiten, die diese Möglichkeit an die richtigen Leute herantragen würde. Wir haben sofort zugesagt.“

Diejenigen Frauen, die ihren Führerschein bei Shishu Mandir gemacht hatten, wurden über die neue Verdienstmöglichkeit informiert. Viele zögerten, da ein Job als Taxifahrerin für Frauen auch heute noch sehr ungewöhnlich in Indien ist. Aber Helen, Flora, Selvi, Sarojini und Shakuntala waren mutig genug und auch neugierig darauf, diese Herausforderung anzunehmen und sahen darin die Möglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

Selvi erzählt: „Ich brauchte einige Zeit, um mich daran zu gewöhnen und meine Angst zu überwinden, aber ich spürte, dass dies eine einzigartige Chance für mich war, um mehr Geld für meine Familie zu verdienen und unabhängiger zu werden.“

Helen kam aus einer zerrütteten Familie. Ihr Vater, ein Alkoholiker, ließ seine Wut regelmäßig an Helen und ihrer Schwester aus. Ihre Mutter ließ die Geschwister schließlich mit dem Vater allein. Als Helen 16 Jahre alt war, arrangierte er ihre Heirat mit einem alkoholkranken Jugendlichen aus der Nachbarschaft. Doch ihr Leben veränderte sich drastisch, als sie schließlich zu Shishu Mandir kam, wo ihr Cousin arbeitete. Sie bekam einen Job in der Küche, wurde aber ermutigt, das Autofahren zu lernen, als die Fahrschule begann. „Meine Fahrgäste, hauptsächlich Frauen, vertrauen sich mir an und fühlen sich sicher mit mir,“ sagt Helen über ihre bisherigen Erfahrungen. „Ich möchte jungen Frauen wie mir Mut machen und ihnen zeigen, dass sie viel mehr machen und erreichen können, als sie zunächst denken.“

Eine Autofahrerin ist in Bangalore immer noch eine Seltenheit, ebenso wie das Elektroauto. Manchmal werden die Taxifahrerinnen zurückgewiesen oder ein Fahrer versucht, sie zu überholen, aber meistens treffen sie auf freundliche Gesichter, Ermutigung und auch viele Anfragen für Selfies. „Ein Fahrgast erzählte mir, er fühle sich sicher, wenn er ein Nickerchen mache, während ich ihn zu seinem Ziel fahre,“ sagt Sarojini.

Die finanzielle Unabhängigkeit durch den Job ist ein wichtiger Aspekt für die Frauen. Jede von ihnen kann zwischen 1.000 und 2.000 Rupien (etwa 12-24 €) pro Tag verdienen. Dabei können sie ihre Arbeitszeiten selbst bestimmen.

Die fünf Frauen kämpfen heute nicht mehr darum, über die Runden zu kommen, sondern sind in der Lage, ihr Leben selbstbestimmt zu planen. „Ich habe immer Kleidung getragen, die mir jemand anderes geschenkt hat. Jetzt habe ich mir qualitativ hochwertige Kleidung gekauft. Ich habe mir sogar einen Sari aus Seide zugelegt,“ sagt Flora und lacht. Sie erzählt auch, dass sie einen Fahrgast in einer Augenklinik abgesetzt und sich dann zu einer Untersuchung dort entschlossen hat. „Man hat mir eine Brille verschrieben. Das kostete 3.800 Rupien. Das wäre bei einem Gehalt als Haushaltshilfe eine große Bürde für mich gewesen.“

Außer dem konkreten, finanzielle Aspekt hat die neue Verdienstmöglichkeit auch einen immateriellen Effekt – die Erfahrung von Unabhängigkeit, Selbstvertrauen und Furchtlosigkeit: „In den ersten Tagen waren die Frauen noch sehr nervös. Also sagte ich, wir würden ihnen den Tagesverdienst bezahlen, damit sie in der Nachbarschaft das Fahren üben konnten. Sobald sie anfingen zu fahren, hielt jemand an und fragte nach einer Mitfahrgelegenheit. Innerhalb weniger Tage fuhren sie überall hin,“ sagt Anand C.

Helen, Flora, Selvi, Sarojini und Shakuntala haben mittlerweile mehr von der Millionenmetropole Bangalore gesehen als je zuvor, sie haben Menschen mit den unterschiedlichsten Hintergründen getroffen und die Welt außerhalb ihrer vier Wände besser kennen und verstehen gelernt. Dadurch und durch ihre neu gewonnene finanzielle Unabhängigkeit sind sie heute selbstbewusste Frauen, die andere ermutigen und inspirieren, es ihnen gleichzutun und ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

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