Minenräumung und ganzheitliche Entwicklung im Tschad

Drei Jahrzehnte innerer Konflikte, die libysche Invasion (1979-1987) im Norden und der anhaltende Terrorismus von Boko Haram gefährden große Teile der Bevölkerung im Tschad durch die Überreste explosiver Kampfmittel. Die knodel foundation hat die Hilfsorganisation Handicap International drei Jahre lang dabei unterstützt, die Bedrohung durch Landminen im Tschad ganzheitlich zu bekämpfen. Damit wurde die Sicherheit und Gesundheit der lokalen Bevölkerung nachhaltig verbessert und die Grundlagen für neue Lebenschancen geschaffen.

Um in einem der ärmsten und gewalttätigsten Länder der Welt wirklich eine Veränderung für die lokale Bevölkerung zu bewirken, sind vielfältige und langfristige Maßnahmen notwendig. Im Tschad hat Handicap International (HI) ein breites Entwicklungsprogramm umgesetzt, um die Regionen Borku und Ennedi sicherer zu machen und den Menschen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen: „Im Mittelpunkt des Einsatzes standen die humanitäre Minenräumung, Aufklärungskampagnen über die Risiken von Blindgängern, Hilfe für Minenopfer, Unterstützung für Menschen mit Behinderung und die Entwicklung von Businessmodellen für die Ärmsten,“ erklärt HI-Projektleiter Jean-Michel Mathiam, der die Aktivitäten in der Region leitete. Die erfolgreiche Umsetzung und Verzahnung der einzelnen Maßnahmen haben das Leben der Menschen, die seit Jahrzehnten unter Krieg und Gewalt leiden, nachhaltig verändert.

Ohne Entminung keine Entwicklung für isolierte Dörfer

Seit dem Konflikt mit Libyen in den 1980er Jahren und den Terrorattacken von Boko Haram sind weite Gebiete im Norden Tschads mit explosiven Kriegsresten verseucht. Anti-Personenminen, Anti-Panzerminen, nicht explodierte Granaten, Munitionen oder Geschosse bedrohen das Leben der Menschen und erschweren die soziale und wirtschaftliche Entwicklung der Region. Ganze Dörfer waren isoliert, da die Zufahrtswege zu unsicher waren. Eine der Säulen des von der knodel foundation unterstützten Projekts ist die Räumung von Blindgängern, um einen sicherern Zugang zu den Dörfern zu garantieren. Nur so kann auch Handel und damit wirtschafltiche Entwicklung in Gang gesetzt werden. Im Zuge dessen wurden mehr als 160 Kilometer Straßen im Laufe des Projekts nach explosiven Kriegsresten abgesucht und freigegeben.

Wichtig für die nachhaltige Wirkung des Projekts ist auch, dass die Kapazitäten der nationalen Minenräumungsbehörde (HCND) ausgebaut wurden. So wurden insgesamt 177 Mitarbeiter geschult, darunter Entminer, Notfall-Pfleger*innen oder Erste-Hilfe-Sanitäter*innen. Dadurch können im Tschad künftig auch ohne externe Hilfe Minenräumprogramme umgesetzt werden.

Schwerstarbeit für die Minenräumer

Die Bedingungen für die Entminungsteams sind herausfordernd. Oftmals herrschen hohe Temperaturen, die Schutzanzüge sind schwer und heiß. Die Entminer arbeiten entlang eines meterbreiten Korridors. Sie bewegen den Metalldetektor über dem Boden und schreiten in Schritten von 40 Zentimetern voran. Ein Lineal auf dem Boden markiert jeden Schritt nach vorne. „Die größte Herausforderung im Tschad ist das Wetter, insbesondere die Sandstürme und die Hitze, die bis zu 50 Grad erreichen kann. Die Bedingungen sind für die Minenräumer sehr hart, da wir schwere Schutzkleidung tragen müssen. Sandstürme reduzieren die Sicht auf fast Null und machen es unmöglich, den Metalldetektor zu hören. Es ist gefährlich, und bei starkem Wind müssen wir unsere Einsätze unterbrechen,“ schildert Jason Mudingay Lufuluabo, einer der Gruppenleiter.

Jason Mudingay Lufuluabo

Minenräumer brauchen regelmäßige Pausen. Sie müssen sich voll und ganz auf die Arbeit konzentrieren. Ihre Bewegungen müssen präzise sein und sie müssen jederzeit genauestens den Anweisungen folgen. „Seitdem ich als Minenräumexperte arbeite – erst in der Demokratischen Republik Kongo und seit einigen Jahren hier im Tschad – habe ich über 300 Minen gefunden. Viele von ihnen waren in einem schlechten Zustand. Da wir sie nicht bewegen oder entschärfen konnten, mussten wir sie vor Ort zerstören,“ berichtet Jason.

Ganz wichtig während der Arbeit ist, dass sich alle an die Sicherheitsvorschriften halten. Denn ein falscher Schritt kann nicht nur das eigene Leben kosten, sondern auch das des Teams. „Ich gebe mal ein Beispiel dafür, warum die strengen Arbeitsverfahren so wichtig sind. Ich arbeitete mit einem Team ganz im Norden und wir fanden fast jeden Tag Panzerminen. Wir haben spezielle Verfahren, wie wir sie vernichten müssen. Dabei müssen wir immer darauf gefasst sein, dass eine Mine mit einer zusätzlichen Sprengfalle versehen ist, was die Arbeit besonders gefährlich macht. Nach ein paar Wochen hatten wir 50 Minen gesichert. Keine der Minen war mit einer Sprengfalle versehen. Aber die 51. war es,“ erzählt Jason.

Kinder sind besonders gefährdet

Auch die zivile Bevölkerung im Norden Tschads lebt unter der ständigen Bedrohung tausender Minen. Mit speziellen Aufklärungskampagnen werden vor allem Kinder vor den Gefahren gewarnt.  Denn diese achten beim Spielen nicht auf gefährliche Minen, Bomben- oder Munitionsreste, die unsichtbar im Gestrüpp oder im Sand versteckt liegen. Und Kinder treten schon mal absichtlich gegen eine Minibombe oder werfen sie sich gegenseitig zu, ohne zu wissen, dass diese jederzeit explodieren kann.

Im Rahmen der Aufklärungskampagnen wurden insgesamt 17.500 Menschen über die Risiken geschult. Diese Veranstaltungen finden draußen im Schatten, vor einer Moschee oder auf Schulhöfen statt, wo HI-Mitarbeiter*innen kleinen Gruppen von 25 Personen anhand von Comicstrips erklären, wie die Blindgänger aussehen, welchen Schaden sie anrichten können und wie man sie verhindern kann. Außerdem wird die Bevölkerung darauf hingewiesen, dass sie die Minen-Warnschilder unbedingt ernstnehmen müssen, schließlich wurden sie auch schon mal als Brennholz verwendet.

Neue Chancen für die lokale Bevölkerung

Rachel war gerade auf dem Weg zu ihrer Schwester, als sie in Fada im Norden des Tschad auf eine Anti-Personenmine trat. Schwerverletzt überlebte die junge Frau. Sie wurde in eine Klinik in N’Djamena gebracht, doch ihr rechtes Bein konnte nicht mehr gerettet werden und musste amputiert werden. Da die 33-Jährige nicht über die finanziellen Mittel verfügte, um sich eine Prothese anpassen zu lassen, wurde sie an das Orthopädie- und Rehabilitationszentrum in Kabalaye verwiesen, das von Handicap International betreut wird. Dort bekam sie die nötigen Behandlungen und eine Prothese – Voraussetzungen, um wieder selbständig leben zu können und ihren eigenen kleinen Laden, in dem sie Erdnüsse verkauft, zu betreiben.

Auch Djedouboun Luc, ein junger Vater, hat dank der Hilfe für Gewaltopfer wieder zurück in ein selbstbestimmtes Leben gefunden. Der 36-Jährige war 2015 auf dem Markt in N’Djamena, als sich ein Selbstmordattentäter in die Luft sprengte. 15 Menschen riss er mit in den Tod, 80 weitere wurden zum Teil schwer verletzt. Djedoubouns Bein wurde zerfetzt. Er wurde damals versorgt und bekam sogar eine Beinprothese, doch diese hält im Allgemeinen nur ein paar Jahre, so dass er sich bald nur noch mit einer zusätzlichen Gehhilfe fortbewegen konnte, bis er 2020 im Reha-Zentrum eine neue Prothese bekam.

„Mit der alten Prothese konnte ich nicht mehr gehen und keine schweren Arbeiten mehr verrichten, die viel Kraft erfordern – ich verdiene mir aber mein Geld als Maurer und Mechaniker, ich muss also mobil sein,“ so Djedouboun. Der Familienvater ist nun wieder autark und kann seine Frau und sein Kind versorgen. „Mit der neuen Prothese, die ich erhalten habe, kann ich weite Strecken laufen und mir Arbeit suchen,“ sagt er.

Neben dem Fokus auf der Unterstützung von Gewaltopfern wie Rachel und Djedouboun wurden auch besonders arme Haushalte in sechzehn ländlichen Gemeinden bei der Entwicklung eines persönlichen Aktionsplans begleitet. Dank eines Sozialfonds – eine Art Sozialversicherung für die am stärksten gefährdeten Menschen – können sie ihr eigenes Unternehmen gründen. So wie Maimouna Abass, eine 30-jährige Witwe und Mutter von zwei Kindern, die nach einer Anschubfinanzierung jetzt ihren eigenen Marktstand in Fada betreibt: „Mein Leben hat sich verändert. Ich kann meine Gewinne in mein Geschäft reinvestieren,“ sagt Maimouna. Mehr als 1.000 Menschen haben bereits Unterstützung erhalten, um finanziell unabhängig zu werden. HI-Teams helfen mit der Ausarbeitung eines Geschäftsplans und Schulungen zu vereinfachter Buchführung.

Maimouna Abass

Entminung als Grundlage für nachhaltige Entwicklung

Alle Säulen dieses ganzheitlichen Entwicklungsprogramms trugen dazu bei, dass die lokale Bevölkerung autark leben kann, sich die lokale Wirtschaft entwickeln konnte und sich die Sicherheit nachhaltig verbessert hat. Grundvoraussetzung dabei war, dass die Regionen Borku und Ennedi im Norden Tschads vollständig entmint wurden, denn nur so können die Menschen in ihrer Heimat sicher leben, Felder bestellen, Handel betreiben und Kinder wieder ohne Gefahr draußen spielen. Mit im Fokus muss dabei immer die Teilhabe und Chancengleichheit der Ärmsten und von Menschen mit Behinderung stehen. Nur wenn alle Projekte ineinandergreifen, ist Stabilität in einer ganzen Region möglich und bekämpft damit Migration, Zwangsumsiedlungen und die Entstehung sozialer Konflikte.

Autorin: Huberta von Roedern, Handicap International e.V.

Bilder: Gwenn Dubourthoumieu, Gilles Lordet, Handicap International

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