Von der medizinischen Nothilfe zur vielseitigen Hilfsorganisation

Shishu Mandir, der „Tempel der Kinder“, kümmert sich um Kinder und Jugendliche in den Armutsvierteln der südindischen Mega-Stadt Bengaluru. Hella Mundhra, Gründerin der Organisation, erzählt uns im Interview, wie alles in den 1970er Jahren begann, teilt einige Erfolgsgeschichten und verrät, wie sich ihr Blick auf Indien in den letzten 50 Jahren verändert hat.

knodel foundation: Sie sind 1973 zusammen mit Ihrem Mann nach Indien ausgewandert und haben dort über die Jahrzehnte Shishu Mandir aufgebaut. Können Sie uns mehr über die Anfänge Ihrer Arbeit erzählen?

Hella Mundhra: Wir wollten medizinische Hilfe nach dem Vorbild des Albert Schweitzer Hospitals in Lambarene geben, konzentrierten uns dann aber auf Kinder, die am meisten unter den verheerenden Armutsverhältnissen litten. Wir nahmen sie in unser Krankenhaus auf und behandelten sie über Monate, bis sie sich einigermaßen stabilisiert hatten. Manche Kinder wollten danach nicht mehr zu ihren Familien zurück, was mich zutiefst erschütterte. Diese Kinder nahm ich deshalb unter meine Fittiche. Unter der Woche lebten sie in unserem Krankenhaus und am Wochenende kamen sie zu uns in die Familie. Sie sollten das Gefühl einer Großfamilie entwickeln.   

Wie hat sich Shishu Mandir bis heute weiterentwickelt, welche verschiedenen Einrichtungen und Projekte gibt es?

Als die Kinder heranwuchsen und schulpflichtig wurden, wählten wir Privatschulen aus unserer Umgebung, die Englisch als Unterrichtssprache hatten. Zu meinem größten Entsetzen sah ich bald, dass die Kinder nur vorgefertigte Fragen und Antworten nach Hause brachten, die sie auswendig lernen und in einer schriftlichen Klassenarbeit wieder von sich geben mussten. Ich versuchte verschiedene Schulen, aber außer den steigenden Schulgebühren änderte sich am Unterrichtsstil nichts. Deshalb fasste ich den Entschluss, ein eigenes Schulprojekt zu entwickeln, das auf den Erfahrungen meiner eigenen Schulzeit fußte und 1993 schließlich Gestalt annahm. Es dauerte 7 Jahre, bis wir ein eigenes Gebäude errichtet hatten, und weitere 8 Jahre, bis ein zweites Schulgebäude hinzukam. Zu dem Zeitpunkt eröffneten wir auch unser Ausbildungszentrum, das Jugendlichen ohne Schulabschluss Grundkenntnisse in handwerklichen Berufen vermittelt. Unser Kinderheim war unser ursprüngliches Projekt, das seit 1986 bestand und das zu dem Zeitpunkt 16 Kinder betreute.    

Hella Mundhra zusammen mit Schüler*innen der kostenfreien Shishu Mandir Schule.

Wie unterscheidet sich die Bildung bei Shishu Mandir vom Lernen an durchschnittlichen öffentlichen und privaten Schulen in Indien? Was macht Shishu Mandir anders?

Unsere Schule nimmt nur arme Kinder aus Notstandsgebieten auf, die keinerlei Chance auf eine adäquate Schulbildung haben. Sie werden durch Sozialarbeiter ausgewählt.

Eine grundsätzliche Forderung an die Lehrer unserer Schule ist, die Kinder in einem lebendigen Unterricht mit Anschauungsmaterialien und Diskussionsmöglichkeiten zu unterrichten, um sie in selbständigem Denken zu schulen. Ich erbat Hilfe von deutschen Lehrerinnen, die zu uns als Volontärinnen gekommen waren, und hatte das Glück, einige von ihnen so zu begeistern, dass sie über Jahre immer wieder zu uns kamen. So wurde ein kindgerechtes Schulprogramm erstellt. Im Mittelpunkt standen selbständiges Denken, gegenseitiger Respekt und Verantwortungsgefühl für sich und seine Gemeinschaft.

Die Schule umfasst 12 Klassenstufen, d.h. 2 Vorschulklassen und 10 Schulklassen. Die ersten 4 Klassenstufen haben 10 Kinder pro Klasse, alle weiteren Klassenstufen 20 Kinder. Das Verhältnis von Mädchen zu Jungen ist 70:30. Seit Mitte 2022 mussten wir einer Regierungsanordnung folgend alle Klassenstufen auf 25 Kinder aufstocken, um die staatliche Anerkennung zu behalten. Nach bestandener 10.Klasse gehen die Kinder ihrer Begabung entsprechend in verschiedene Ausbildungsrichtungen. Die meisten streben das Abitur (PUC) an. Anschließend können sie eine College-Ausbildung machen und die Qualifikation eines Masters erreichen. Die gesamten Ausbildungskosten trägt das Shishu Mandir.

Um das Selbstwertgefühl der Kinder zu entwickeln, bieten wir ihnen zahlreiche Arbeitsgemeinschaften (AGs) an.  Das Angebot umfasst sportliche AGs wie Volleyball, Basketball, Fußball, Tischtennis, Einradfahren, Skating, Schwimmen und Bharatnatyam-Tanz. An musischen AGs gibt es Unterricht in Gitarre, Keyboard und Blockflöte. Die Kinder können auf diese Weise ihre eigenen Talente entdecken.  

Die schwerste Aufgabe ist jedoch, Lehrer*innen zu bekommen, die bereit und fähig sind, unseren anderen Unterrichtsstil zu lernen und anzuwenden. Dazu waren viele Fortbildungen nötig, und schließlich haben wir seit drei Jahren einen professionellen Lehrerausbilder eingestellt.

Was sind für Sie einige der größten Erfolgsgeschichten von Shishu Mandir?

Aus der Vielzahl der Erfolgsgeschichten die größte herauszupicken, fällt mir schwer. Doch im Nachhinein gibt es wahrhaftig eine herausragende Erfolgsgeschichte, die von unseren früheren Kindern Nandini G. und Murali R. Die beiden, die noch in ihrer College-Ausbildung stecken, haben in der Corona-Zeit ein Hilfsprojekt ins Leben gerufen, das armen Kindern aus ihrem Umkreis gewidmet war. Sie unterrichteten zunächst eine Gruppe von ca. 15 Kindern in den Grundkenntnissen von Schreiben und Rechnen. Doch bald konnten sie den Hunger und die Unterernährung der Kinder nicht mehr ertragen und kochten ihnen eigenhändig Essen in ihrer Küche. Anfangs kamen die Kinder zum Essen zu ihnen, späterhin verhängte die Regierung eine Ausgangssperre, die sie zwang, das Essen auf Schleichwegen auszutragen. Etliche Klassenkameraden halfen ihnen dabei. Finanziert wurde das Projekt durch Spenden aus ihrer Umgebung und durch die Absicherung von Shishu Mandir.

Nandini und Murali setzen sich nicht nur mit aller Kraft für arme Kinder ein, sie haben auch ihren eigenen Lebensstil ihren Familien und der Gesellschaft gegenüber standhaft verteidigt. Sie wollen ihr Leben gemeinsam verbringen und sich schon vor der Heirat zusammen in der Gesellschaft bewegen. Sie vertreten für mich ein modernes, liberales Menschenbild und zudem ein ungewöhnlich großes Verantwortungsgefühl für die Armen. 

Eine weitere Erfolgsgeschichte: Visha

Visha wurde mit 12 Jahren Zeugin, wie sich ihre Mutter im Streit mit ihrem Vater selbst verbrannte. Ihr Vater, ein starker Alkoholiker, starb einige Jahre später, so dass Visha elternlos wurde.

Sie war bereits in unserer Schule, nun holten wir sie auch in unser Heim, wo sie bis zum Abschluss ihres PUC (Abitur) blieb. Sie war ein ungewöhnliches Kind. Nicht nur durch ihre Intelligenz fiel sie allen auf, auch durch ihre Ehrlichkeit und selbstkritische Art wurde sie anerkannt und war allen die „Akka“ (große Schwester). Sie setzte sich für alle gemeinnützigen Aufgaben ein, konnte kleine Abendveranstaltungen in der Kindergruppe organisieren und lustig gestalten, sie war einfach ein rundum starkes Mädchen.

Neben all diesen gemeinschaftlichen Aufgaben erreichte sie in ihrem Studium der Naturwissenschaften in der Regel Spitzenerfolge, so dass sie mühelos ihren Master in Life Science schaffte. Visha hat sich trotz ihrer grauenhaften Kindheitserlebnisse nicht runterziehen lassen, sondern alles, was in ihr schlummerte, zu einem hervorragenden Abschluss gebracht. Sie arbeitet jetzt als Lektorin in einem College.

Im Kinder- und Jugendheim befinden sich zu jeder Zeit ca. 30 Kinder im Alter von ein paar Tagen bis zu 25 Jahren.

Was sind für Sie die zurzeit größten Herausforderungen

Unser Kinderheim ist aufgeteilt in drei Untergruppen von je 8 Kindern. Jede Gruppe benötigt eine Hausmutter, die 24 Stunden bei den Kindern wohnt und sie in allen Bereichen betreut. Wie in einer Familie muss die Hausmutter immer anwesend sein.

Diese Art des Berufes, in dem man ständig auf seiner Arbeitsstelle sein muss, wenn auch Freitage und Freizeit im Laufe des Tages gewährt werden, ist nicht mehr beliebt. Wir wenden uns im Bekanntenkreis durch Mundpropaganda an die Gesellschaft und sogar durch eine besonders gestaltete Zeitungsannonce – aber alles ohne  Erfolg. Jahrelang mussten wir mit einer Unterbesetzung der Hausmütter auskommen, was die Lust auf diesen Beruf noch deutlich schädigte. Auch von den großen Organisationen hören wir, dass sie mit derselben Notlage zu kämpfen haben.

So ist man auf unausgebildete und unerfahrene Frauen angewiesen, die bei uns dann eingearbeitet werden. Doch die Arbeit mit Kindern jedes Alters ist schwer, denn es erfordert ein tiefes menschliches Verständnis, das nur wenige Menschen mitbringen. So bleibt dieser Notstand leider bestehen.

Wie hat sich ihr Blickwinkel auf Indien über die letzten Jahrzehnte verändert?

Die politische Entwicklung in Indien ist in den letzten Jahren in eine katastrophale Richtung abgedriftet. Wir spüren die Vorschriften, die Schulen und Heimen auferlegt werden, als sehr menschenunfreundlich und diktatorisch. Ein Modell wie das unsrige mit kleinen Klassen (10 bzw. 20 Kinder) und intensiver Zuwendung zu dem Einzelnen ist in der staatlichen Schulordnung nicht vorgesehen. Wir mussten uns den neuen Gesetzen von mindestens 25 Kindern pro Klasse unterwerfen. Im Heim mussten wir unser Konzept von einer familienähnlichen Struktur mit altersgemischten Gruppen zugunsten eines alterskonformen Systems aufgeben. Dies sind nur zwei relativ harmlose Beispiele einer tiefgreifenden Umstrukturierung im Lande, die ein rückwärtsgewandtes Menschenbild anstrebt und die Rechte der Menschen entscheidend einschränkt.

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